Jedes Jahr am 1. Dezember stehen die Betroffenen einer Pandemie im Mittelpunkt, die Anfang der 80er Jahre bekannt wurde und die bis heute andauert. Das HI-Virus hat seit seinem Auftauchen gemäß den Angaben der UNAIDS etwa 33 Millionen Todesopfer gefordert. Etwa 38 Millionen Menschen weltweit sind HIV-positiv und von diesen haben etwa 25 Millionen Menschen Zugang zu antiretroviralen Medikamenten. Im Jahr 2019 starben etwa 690 000 Menschen mit AIDS und knapp zwei Millionen wurden neu infiziert. Seit 2004 geht die jährliche Anzahl der Todesopfer stetig zurück. Auch die Anzahl der Neuinfektionen sinkt. Für Österreich geht die AIDS-Hilfe Wien von etwa 8 000 bis 9 000 Infizierten aus. Im Jahr 2019 gab es 430 Neudiagnosen. Das sind mehr als 2018 (397 Neudiagnosen), aber weniger als 2017 (510 Neudiagnosen). Die Anzahl derjenigen, bei denen das HI-Virus neu festgestellt wurde, lag in in den letzten Jahren also etwa bei 400 bis 500 Personen pro Jahr. Von diesen erhalten etwa 40 Prozent die Diagnose zu einem Zeitpunkt, in dem das Immunsystem bereits geschwächt ist.
Der seit Jahren anhaltende weltweite Rückgang von Neuinfektion und Todeszahlen ist Aufklärungsmaßnahmen und dem Zugang zu Kondomen und sauberen Spritzen ebenso zu verdanken wie dem Zugang zu antiretroviralen Medikamenten. Es ist dem weltweiten Engagment von Betroffenen, Wissenschafter*innen, Mediziner*innen und den Aktivist*innen, die mit den Betroffenen solidarisch sind, zu verdanken, dass unzählige Menschen vor dieser Erkrankung geschützt werden konnten und das dass diese Krankheit kein Todesurteil mehr ist. Mit der passenden Medikation ist heute auch HIV-Infizierten möglich, ein beinahe normales Leben mit beinahe derselben Lebenserwartung zu führen wie ohne die Infektion.
Diese Fortschritte sind durch Covid-19 in globalem Maßstab bedroht. Lockdowns und Grenzschließungen bedrohen den Zugang zu antiretroviralen Generika für HIV-Infizierte. Dies hat nach den Zahlen von UNAIDS den Tod von etwa einer halben Million Menschen zur Folge. Gleichzeitig droht ohne entsprechende Medikamente ein massiver Anstieg von Mutter-Kind-Übertragungen was zu einem deutlichen Anwachsen der Anzahl an HIV-positiven Kindern führen würde. Daher ist es wichtig, dass durch eine internationale Kooperation nicht nur die Covid-19-Pandemie eingedämmt wird, sondern auch auf Maßnahmen zur Behandlung und Prävention von AIDS nicht vergessen wird.
In einem beachtenswerten Statement hält die Exekutivdirektorin von UNAIDS, Winnie Byanyima, fest, dass der diesjährige Welt-AIDS-Tag von den vergangenen einem wesentlichen Punkt unterscheidet: Wir hätten es heuer mit zwei Pandemien zu tun. Neben HIV stelle uns auch Covid-19 vor globale Herausforderungen. Aus den Erfahrungen mit HIV werde deutlich, dass Pandemien die globale Ungleichheit noch verschärfen. Dem sei entgegenzuwirken, indem soziale Ungerechtigkeiten bekämpft werden und das Recht auf Gesundheit für alle verwirklicht wird. Gesellschaftlicher Zusammenhalt nach dem Prinzip der geteilten Verantwortung („shared responsibility“) habe einen wesentlichen Beitrag zu den Erfolgen im Kampf gegen HIV geleistet. Dennoch bleibe noch viel auf diesem Gebiet zu tun, da noch immer mehr als 12 Millionen HIV-Infizierte keinen Zugang zu antiretroviraler Versorgung haben. Byanyima wird deutlich, indem sie festhält, dass es für Staaten keine Entschuldigung dafür gibt, nicht vollumfänglich in den universellen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu investieren und sie fordert ein, dass Rechte von Frauen und Mädchen im vollen Umfang respektiert werden und die Kriminalisierung und Marginalisierung von Schwulen, Transgendern und Drogenabhängigen beendet werden. Sie setzt auf globale Solidarität und das Prinzip der geteilten Verantwortung im Kampf gegen beide Pandemien und für die Sicherung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung für alle.
Trotz wesentlicher Unterschiede zwischen beiden Krankheiten bestehen gewisse Parallelen zwischen AIDS und Covid-19:
- Beide Krankheiten sind Zoonosen, stammen also aus dem Tierreich. Während SARS-CoV-2 wohl von den Fledermäusen auf den Menschen überging, sprang das HI-Virus wohl vom Affen auf den Menschen über.
- Um beide ranken sich Falschnachrichten. So wurde von sowjetischen Geheimdiensten die Falschinformation gestreut, dass die USA für die Entstehung von AIDS verantwortlich sei. Auch Covid-19 ist Mittel im Info-Krieg. Jetzt dagegen behaupten Trump und Co, dass Covid-19 in einem chinesischen Labor entstanden sei. Derartige Falschinformationen und Schuldzuweisungen behindern die globale Zusammenarbeit und Solidarität, die für den bestmöglichen Umgang mit Pandemien essentiell ist. Denn globale Probleme benötigen globale Lösungen.
- Die Ignoranz gegenüber der Krankheit selbst ist ein großes Hindernis im Kampf gegen diese. Während Covid-19 oft zu einer „Grippe“ bagatellisiert wird (obwohl die Influenza selbst auch keine Bagatelle wäre, sondern eine bislang viel zu wenig beachtete Krankheit), wurde die Existenz von AIDS von vielen geleugnet und die Todesfolge anderen Ursachen zugeschrieben wie etwa Unterernährung oder diversen Infektionen. Gerade weil HIV besonders stark stigmatisierte Gruppen betraf, interessierten sich wenige für deren Schicksal. Covid-19 betrifft dagegen in erster Linie ältere Menschen mit Vorerkrankungen, die insbesondere von neoliberalen Ideolog*innen als eine entbehrliche Belastung angesehen werden.
Gerade angesichts der heuer intensiv geführten Debatte darüber, ob Covid-19 die Todesursache sei oder eine andere Erkrankung, ob also Leute „an“ oder „mit“ Covid-19 gestorben sind, sollten wir uns eine wichtige Tatsache vor Augen führen: Niemand stirbt „an“ AIDS, sondern stets „mit“ AIDS. Denn das HI-Virus greift das menschliche Immunsystem an setzt es außer Kraft. Dadurch können alle möglichen Krankheitserreger ungestört ihr Werk im menschlichen Körper verrichten. Deshalb ist die HIV-Infektion auch nicht alleinige Todesursache, sondern es sind andere Krankheiten, die letztlich zum Tod führen. Daraus sieht man, dass die Unterscheidung „an“ und „mit“, auf die zahlreiche Corona-Leugner*innen so viel wert legen, nicht so viel Erkenntnis liefert, wie es auf den ersten Blick scheint. Die Frage ist vielmehr die, ob die Infektion eine condicio sine qua non darstellt. Und diese Frage ist eindeutig zu bejahen. Denn AIDS-Patient*innen bekommen Krankheiten, die nur Menschen mit kaputtem Immunsystem bekommen können. Was HIV im Körper macht und warum sich der menschliche Körper dagegen auf Dauer nicht erfolgreich wehren kann, ist jahrzehntelang erforscht.
Bei Covid-19 sind die Erkenntnisse dagegen neu und notwendigerweise unvollständig. Wir wissen mittlerweile, dass dieses Virus nicht nur das Lungengewebe angreift, sondern sämtliche Zellen, die einen Angiotonsin-Rezeptor haben. Es greift in erster Linie Gefäßzellen an, macht Gefäße undicht und verursacht Infarkte. Gerade für Menschen mit Bluthochdruck, Diabetes, Übergewicht und anderen Vorerkrankungen ist Covid-19 daher besonders gefährlich. Und wenn diese Menschen sterben, so hat ihr Tod eben auch mehrere Ursachen. Dennoch ist dann in den allermeisten Fällen klar, dass sie ohne diese Infektion nicht gestorben wären, dass also Covid-19 die condicio sine qua non ihres Todes ist.
Aktuell haben Virusleugner*innen unter den Mediziner*innen Hochkonjunktur und verkaufen ihre Position als „evidenzbasiert“. Besonders bemerkenswert ist, dass manche derjenigen, die gegen Covid-19-Maßnahmen wortreich und lautstark auf die Barrikaden gehen, eine längere Vorgeschichte im Umfeld der AIDS-Leugner-Szene haben, wie etwa der Arzt Christian Fiala.
Christian Fiala gehörte 2000 bis 2001 zusammen mit Peter Duesberg, David Patrick und Claus Köhnlein zu der südafrikanischen AIDS-Expertengruppe, die den damaligen Präsidenten Thabo Mbeki beriet. Die Gesundheitsministerin Manto Tsabalala Msimang stellte daraufhin die HIV-Präventionskampagnen ein und ließ AIDS-Kranken Knoblauch, Olivenöl und rote Beete verabreichen. Die Gesundheitsministerin erhielt daher von Kritiker*innen den Namen „Dr. Rote Beete“. Das Ergebnis dieser Politik ist jedenfalls verheerend und die Folgen schlugen sich mit hunderttausenden vermeidbaren Neuinfektionen und Todesfällen zu Buche.
AIDS-Leugner*innen argumentieren gerne damit, dass die Menschen in Afrika nicht an AIDS stürben, sondern an Armut und Hunger. Das verfängt auch in der Entwicklungshelfer-Szene. Es ist ja nicht falsch, dass Armut und Hunger krank machen und bekämpft werden müssen, aber das ist eine Selbstverständlichkeit und wird auch von den AIDS-Aktivist*innen nicht bestritten. Das oben zitierte Statement von Winnie Byanyima ist diesbezüglich unmissverständlich. Die Kritik an der Bangui-Definition, nach der Menschen mit bestimmten Symptomen auch ohne Test als AIDS-krank gelten, hat auch einen wahren Kern, aber daraus folgt nur, dass jeder Verdachtsfall unbedingt getestet werden muss.
Derzeit haben weltweit etwa 25 Millionen HIV-Infizierte Zugang zu Medikamenten, die es ihnen ermöglichen, mit dem Virus zu leben, anstatt daran zu sterben. Dies wird auch anhand der Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gemeinsam mit der Deutschen AIDS-Stiftung und der Deutschen AIDS-Hilfe zum diesjährigen Welt-AIDS-Tag deutlich, die unter dem Motto steht „Leben mit HIV ist anders als du denkst“. Das alltägliche Problem von HIV-Infizierten ist nicht mehr das Leben mit dem Virus. Denn es gibt heute Medikamente, die das gut in den Griff bekommen. Es sind Diskriminierung, Vorurteile und Ungewissheit. Daher ist das Leben der heute mit HIV-Infizierten in vieler Hinsicht normal. Was wäre, wenn auf einmal AIDS-Leugner*innen die Regie übernähmen und diesen Menschen den Zugang zu antiretroviralen Medikamenten verweigern würden?
Wenn wir in der aktuellen Debatte um die Covid-19-Pandemie auf „Expert*innen“ hören, die schon im Zusammenhang mit AIDS so fundamental falsch lagen, dann begehen wir einen ebenso großen Fehler, wie wenn wir Menschen, die sich an einem Virus angesteckt haben, zu Sündenböcken abstempeln. Die Quintessenz, die wir aus dem HIV-Diskurs ziehen können und die auch für Covid-19 gilt, ist folgende: Es handelt sich um Krankheiten und denjenigen, die davon betroffen sind, muss geholfen werden. Es gilt, die Wirkweise und Übertragungswege genau zu analysieren, Präventions- und Behandlungsmethoden zu entwickeln und Wege zu finden, wie die gesamte Gesellschaft mit der Krankheit umgehen kann.
Auch wenn hier im Umgang mit AIDS vieles erreicht wurde, gibt es immer noch Verbesserungsbedarf. Auch in Innsbruck. Während die Stadt Wien auf ihrer Homepage Anlaufstellen zur AIDS-Thematik verlinkt, ist dergleichen auf der Homepage der Stadt Innsbruck nichts Entsprechendes zu finden. Dieser Umstand gehört jedenfalls zu den Dingen, die verhältnismäßig leicht zu beheben wären. Die Stadt Innsbruck könnte etwa durch einen Hinweis auf die AIDS-Hilfe-Tirol mehr Präsenz zeigen.
Roland Steixner
Bild: Charles Deluvio (unsplash)